Das GRK erFÄHRT Weimarer Wohnungsprojekte

Journal/Excursion

Nieselregen prasselt auf die bunten Jacken und Regenponchos der Teilnehmenden. Trotz kühlen 12 Grad und bewölktem Himmel ist die Stimmung ausgelassen. Ab und an ertönt eine Radklingel. Wir sind mit einer Gruppe von 20 Personen am Nachmittag des 8. Oktober mit Fahrrädern auf dem Weg quer durch Weimar, um lokale Projekte innovativen Wohnungsbaus kennenzulernen.

Wohnen als menschliches Grundbedürfnis und damit elementarer Bedeutung für die individuelle wie gesellschaftliche Entwicklung stellt auch den Ausgangspunkt für die Arbeit unseres Graduiertenkollegs dar. Wohnraum bildet die primäre Nutzung des Bodens in den Städten. Durch die Organisation von und wechselseitigen Beziehung zwischen Wohnraum und Boden kommt es zu immer wiederkehrenden Wohnungskrisen, die dieses Grundbedürfnis in Frage stellen. Mit unserem Graduiertenkolleg wollen wir in den nächsten fünf Jahre aus verschiedenen Blickwinkeln ergründen, wie genau die gebaute Wohnumwelt gesellschaftliche Entwicklungen prägt, während umgekehrt auch unsere sozialen Praktiken wiederum unsere Wohnsituation verändern.

In den vergangenen 100 Jahren wurden unterschiedliche Lösungen für die Herausforderungen der Wohnraumversorgung in den jeweiligen Epochen gesucht und auch gefunden. So erfahren wir an diesem Tage wortwörtlich welche reiche Geschichte Weimar an Projekten für bezahlbaren und für seine jeweilige Zeit neuartigen Wohnungsbau hat(te).

Die Bauhaus-Universität Weimar und ihre Fakultät Architektur und Urbanistik als Orte inter- und transdisziplinärer Forschung bilden seit vielen Jahren einen Rahmen für eine integrierte und raumbezogene Wohnungsforschung, woran das Graduiertenkolleg nun anknüpfen kann. Das Netzwerk interdisziplinärer Weimarer Wohnungsforschung widmet sich seit 2018 aktuellen Fragen der Wohnungsforschung zu Boden, Infrastruktur, Praktiken und Methoden. Darunter sind auch einige Mitglieder des GRK, wie die assoziierten Forschenden Johanna Günzel und Elodie Vittu sowie Barbara Schönig, Sebastian Schipper und Daniela Zupan aus dem Kollegium. In vielfältigen Veranstaltungsformaten, wie Kolloquien, Workshops, Stadtgesprächen und Planungsprojekten, fanden interdisziplinäre Dialoge zwischen Wissenschaft und Praxis darüber statt, Lösungen für drängende Fragen einer sozial gerechten Wohnraumversorgung zu finden.

Im Kontext des Themenjahres „Wohnen“ 2023 entstand – auf Initiative des Netzwerks Weimarer Wohnungsforschung – auch die Radkarte „Wohnen in Weimar“ (IFEU Fahrradkarte), welche anhand verschiedener Routen neuartige Wohnungsbauprojekte seit den 1920er Jahren zu Fuß und zu Rad erfahrbar macht. Auf diesen Spuren wollen wir heute mit zivilgesellschaftlichen Trägern lokaler Wohnprojekte in den Austausch kommen.

Weimar zählt heute etwa 65.000 Einwohnende. 25% des Wohnungsmarktes sind in Wohneigentum und 41% der Wohnbestände befinden sich in Hand der kommunalen Wohnungsunternehmen Weimarer Wohnstätten und der Gemeinnützigen Wohnungsgenossenschaft Weimar. Die Stadt weist eine ausgesprochen hohe sozialräumliche Segregation zwischen den unterschiedlichen städtebaulichen Strukturen auf – der nach der „Wende“ 1989/90 aufwendig sanierten Altstadt, den hochpreisigen Villen- und Gründerzeitvierteln, den mittleren Wohnlagen in den Stadterweiterungsgebieten des späten 19. Jahrhunderts bis in die 1930er sowie den eher peripher gelegenen Siedlungen der DDR-Wohnungsprogramme.

Wir stoppen u.a. an der Ferdinand-Freiligrath-Straße, einem architekturhistorischen Zeugnis der „Stuttgarter Schule“ der traditionalistischen Moderne aus den 1930er Jahren, und dem „Langen Jakob“, dem in den frühen 1970er Jahren als sozialistisches Studierendenwohnheim erbauten und heute denkmalgeschützten einzigen Weimarer Hochhaus.

Im Nordosten der Stadt halten wir in der „Ro70“ – einem als Polizeikaserne in den 1930er Jahren gebauten und später als Notunterkunft und Klinikum umgenutzten Gebäudeensemble. Seit 2020 leben hier etwa 200 Personen, die sich aus einer Bürger:innen-Initiative als Genossenschaft formierten. Das Wohnprojekt setzt auf generationenübergreifendes Zusammenleben und verfügt über einen hohen Anteil an barrierefreien und -armen Bereichen.

Weiter geht es bei widrigen Wind- und Wetterbedingungen zum denkmalgeschützten Straßenzug der Asbachstraße im Stadtinneren. In einer leerstehenden Wohnung der Hausnummer 32 erprobten Studierende und Wissenschafter:innen der Bauhaus-Universität, unter Anleitung zweier Kollegiumsmitglieder unseres Graduiertenkollegs – Barbara Schönig und Verena von Beckerrath – zwischen 2017 und 2020 neue Formen des Wohnens, um den Wohraum über die Nutzung selbst zur Nachbarschaft hin zu öffnen.

Mit Getränken und angeregten Diskussionen wärmten wir uns auf dem Gelände der „Alten Feuerwache Weimar“. Hier realisiert der Verein ein nutzungsgemischtes Quartier im Modell des Mietshäuser Syndikat finanziert mit Mikrokrediten. Schritt für Schritt entsteht hier in gemeinschaftlichen Aktionen der Raum für ein bezahlbares Mehrgenerationen-Wohnprojekt, wovon einige barrierefrei und rollstuhlgeeignet sind und darüber hinaus für Flächen für Nachbarschaftsinitiativen und Quartier öffentlich zugänglich macht.

Als letzte Etappe der vierstündigen Tour radeln wir durch die Großwohnsiedlungen Weimar-Nord und Weimar-West, welche zwischen den 1950er und 1980er Jahren im Stile industrieller Plattenbauweise errichtet wurden, um der Wohnungsnot zu begegnen.

Am Ende des Ausflugs bleiben Eindrücke von Orten und Gesprächen über innovative Wohnungsbauprojekte, die in Weimar in unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Kontexten realisiert wurden, um dem Grundbedürfnis nach Wohnen und einer gemeinwohlorientierten Wohnungsversorgung nachzukommen. Wir sind uns einig, die Wohnungsfrage besteht fort. Und Lösungen für eine sozial gerechte und nachhaltige Wohnraumversorgung können nur in integrierter Perspektive mit Beteiligung verschiedener Disziplinen gefunden werden.