Trends des Wandels des Wohnens

Diversifizierung und Digitalisierung

Während für den „Idealtypus des modernen Wohnens” die Trennung von Erwerbsarbeit und Wohnen sowie von Öffentlichkeit und Privatheit charakteristisch waren und die Wohnung als Ort der Kleinfamilie und der Intimität erschien, haben in den letzten Jahrzehnten gesellschaftliche Transformationsprozesse die alltäglichen Praktiken des Wohnens tiefgreifend verschoben. Anschließend an eine stärkere Individualisierung sozialer Beziehungen und einer Pluralisierung von Lebensstilen mit dem Übergang vom Fordismus zum Postfordismus hat sich unter den Bedingungen des flexibilisierten Kapitalismus inklusive seiner technologischen Entwicklungen seit den 2000er Jahren das Wohnen als zentraler Ort der Reproduktion abermals transformiert: Die Zunahme sozioökonomischer und sozialräumlicher Ungleichheit, die Pluralisierung von Haushaltsstrukturen und Familienformen, die Flexibilisierung und Entgrenzung von Arbeit, Migrationsbewegungen und veränderte Mobilitätsmuster, die Neuverhandlungen von Geschlechterverhältnissen und neue Anforderungen der Care-Arbeit sowie die Digitalisierung aller Lebensbereiche wirken sich in vielerlei Hinsicht auf Wohnpraktiken und -ideale aus und spiegeln sich in den alltäglichen Bewältigungen wider.

Die damit verbundenen Verschiebungen der räumlichen Organisation des Wohnens werden gegenwärtig beispielsweise sichtbar im z. T. widersprüchlichen Bedeutungsgewinn von Mikroapartments, Pflege-WGs, Sammelunterkünften sowie gemeinschaftlichen Wohnformen. Darüber hinaus zeigt sich die wechselseitige Transformation von Wohnungen und Wohnpraktiken in der Flexibilisierung von Grundrissen, im multilokalen Wohnen und urbanem Nomadentum, in der sozial selektiven Rückverlagerung von Erwerbsarbeit ins Home-Office oder in Gestalt des Einzuges digitaler Technologien des Smart Homes.

4-stöckiges Gebäude aus weißem und blauem Beton
4-stöckiges Gebäude aus weißem und blauem Beton, Amsterdam (Ján Jakub Naništa, Unsplash)

Privatisierung und Finanzialisierung der Eigentumsstrukturen

In nahezu allen europäischen Wohnungsregimen haben öffentliche bzw. nicht-profitorientierte Wohnungsunternehmen sowie der Staat als Eigentümer in den letzten 30 Jahren an Gewicht eingebüßt. Angesichts der Privatisierung öffentlicher Wohnungsbestände, der Responsibilisierung sozialer Sicherungssysteme, des Abbaus geförderter Wohnungsbestände und der langen, mittlerweile beendeten, Niedrigzinsphase der 2010er Jahre hat demgegenüber das private Wohneigentum an Geltung gewonnen. Zudem haben im Hinblick auf die Finanzialisierung und Globalisierung der Wohnungsversorgung seit den 1990er Jahren institutionelle finanzmarktorientierte Eigentümer erheblichen Bedeutungsgewinn erfahren. Das Spektrum ihrer Investitionsstrategien reicht vom segregierten Luxusneubau über die Aufwertung von Bestandsgebäuden bis zum Betrieb von „Schrottimmobilien”, die mangelhaft instandgehalten und an Empfänger:innen von Transferleistungen vermietet werden. Seit der Finanzkrise von 2008 hat dieser Prozess in manchen europäischen Ländern nochmals an Dynamik gewonnen, wenn etwa in Spanien und Irland institutionelle Investoren Wohneinheiten verschuldeter Hypothekennehmer:innen aufkaufen und in einen finanzialisierten Mietsektor überführen.

Vielfach unbeachtet bleibt meist, dass diese Prozesse auch in strukturschwachen oder ländlichen Räumen nicht ohne Wirkung bleiben: Delokalisierte Eigentumsstrukturen und renditeorientierte Bewirtschaftungsstrategien fördern Desinvestition in Wohnraum gerade dort, wo die Renditeerwartungen gering sind. Sie verstärken so die Effekte von Abwanderung und demographischer Schrumpfung sowie den Mangel an Wohnqualität. Konträr zum Prozess der Finanzialisierung haben in jüngerer Zeit genossenschaftliche und andere gemeinwohlorientierte Akteure eine neue Anziehungskraft entfaltet. Deren Strategien werden in besonderer Weise dauerhaft niedrige Mieten, sozialräumliche Integrationsfunktionen und Potential für innovative Architekturen zugeschrieben, wobei die Nachhaltigkeit und transformative Macht dieser Initiativen bislang offen bleibt.

Graffiti Kunst an einer Häuserwand, Irland, 2022
Wohnungs- und Schuldenkrise: Unbekannter Künstler, Graffiti Cork, Irland, 2022 (Foto: privat)

Soziale und räumliche Polarisierung und Prekarisierung des Wohnens

Angesichts steigender Mieten und Bodenpreise zeigt sich in wachsenden Städten und Stadtregionen Europas eine Rückkehr der Wohnungsfrage im Sinne zunehmender Wohnungsarmut, Wohnungslosigkeit und Wohnungsknappheit, die insbesondere untere und mittlere Einkommensschichten trifft und gerade angesichts der jüngsten Migrationsbewegungen eine neue Dringlichkeit gewonnen hat. Demgegenüber kämpfen strukturschwache, peripherisierte Städte und Dörfer mit Wohnungsleerstand sowie einem Mangel an Investitionen zur Bereitstellung qualitätsvollen und bezahlbaren Wohnraums.

Angesichts drastisch steigender Energiepreise wird die Krise der Bezahlbarkeit des Wohnens zukünftig darüber hinaus sowohl im städtischen als auch ländlichen Kontext noch deutlich an Brisanz gewinnen. Die gesellschaftliche Krise der Wohnungsversorgung schlägt sich in einer vielschichtigen räumlichen Polarisierung und Restrukturierung des Wohnens nieder: Auf der Ebene der Wohnung in einer Ungleichverteilung an Wohnqualität und Wohnraum, stadträumlich in Prozessen sozialer Segregation und Verdrängung. Regional zeigt sich diese Entwicklung in der Ausdehnung suburbaner Siedlungsräume, dem Bedeutungsgewinn neuer „rurbaner” Lebensweisen in Nähe der Wachstumsregionen und anhaltender Dequalifizierung von Wohnraum in peripherisierten Regionen.

Zunehmend konfliktreich gestalten sich angesichts dieser neuen Wohnungsfragen derzeit auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene die politischen Auseinandersetzungen um die widersprüchliche Ausdeutung des Wohnens als Sozial- oder Wirtschaftsgut und die damit verbundenen Politiken, bspw. im Planungs-, Miet- oder Eigentumsrecht. Einer Kontinuität marktkonformer (bzw. neoliberaler) Perspektiven einerseits stehen verstärkt postneoliberale Strategien andererseits gegenüber, die nicht zuletzt durch soziale Protestbewegungen und zivilgesellschaftliche Initiativen gefordert werden und in den letzten Jahren auch kommunale Politiken geprägt haben. Der zentrale Stellenwert des Wohnens als Ausdruck und Verstärker sozialer Ungleichheit und als Ort, an dem die Krise der sozialen Reproduktion in sozial unterschiedlicher und vergeschlechtlichter Weise erfahrbar wird, wurde im Zuge der Corona-Pandemie und wird nun angesichts der Prekarität von Energieversorgung abermals sichtbar.

© Florian Janik

Globale Klimakrise und Ökologisierung des Wohnens

Schließlich wandelt sich das Wohnen auch angesichts der Klimakrise und der damit verbundenen ökologischen Herausforderungen. So verändern sich bspw. Wohnpraktiken klimabedingt oder werden etwa Strategien zur Klimafolgenanpassung sowie CO2-Vermeidung umgesetzt. Letztere gehen mit Anforderungen an Bestand, Neubau, Nutzung und Wohnumfeldgestaltung einher, um Treibhausgasneutralität zu erreichen, Flächen- und Ressourcenverbrauch zu reduzieren und Wohnorte an veränderte stadtklimatische Bedingungen und diversifizierte Wohnbedürfnisse anzupassen.

Die hiermit verbundenen entwerferischen, stadtplanerischen, stadtökologischen und bautechnischen Anforderungen stellen eine Chance für die nachhaltige Gestaltung der Umwelt dar. Ihre Realisierung geht zugleich aber einher mit ökonomischen, sozialen oder fiskalpolitischen Interessenkonflikten, wenn etwa die klimatechnische Ertüchtigung des Bestandes gegen Abbruch und Neubau ins Feld gebracht wird, die Reduktion von Wohnfläche zuallererst im sozialen Wohnungsbau gefordert wird, aus mikro-klimatischer Perspektive der Erhalt von innerstädtischen oder stadtnahen Grünflächen mit Neubauvorhaben kollidiert, energieeffizientes Bauen die Erträge privater Investoren beschränkt, die soziale Gerechtigkeit der Kostenverteilung energetischer Modernisierung oder hoher Heizkosten aufgrund mangelhafter energetischer Standards zur Debatte steht oder in schrumpfenden Kommunen aus fiskalpolitischen Gründen neue Einfamilienhausquartiere ausgewiesen werden statt Leerstände zu nutzen.

Zugleich wirft die Ökologisierung des Wohnens Fragen nach dem Verhältnis von Stadt, suburbanem Umland und ländlichen Räumen auf und ist eng verwoben mit der regionalen Organisation von Arbeit, Mobilität und Versorgung und der damit verbundenen Rekonfiguration von Stadt-Land-Beziehungen zu „rurbanen” Landschaften und Lebensweisen und deren vielmals ökologisch problematischen Auswirkungen. Sie erscheint gerade angesichts der zuvor beschriebenen Trends als eine gesellschaftliche Herausforderung ohne Gleichen.

© Tabea Latocha